Fälle des Monats
- Fall des Monats "August 2015": Fokussierungsfehler im Rettungsdienst setzt sich fort
- Fachkommentar des Fachbeirats CIRSmedical.de
- Titel: Fokussierungsfehler im Rettungsdienst setzt sich fort
- Fall-Nr: 125622
- Zuständiges Fachgebiet: k. A.
- Altersgruppe des Patienten: 61-70
- Geschlecht des Patienten: k. A.
- Wo ist das Ereignis passiert?: Krankenhaus
- Welche Versorgungsart: Notfall
- In welchem Kontext fand das Ereignis statt?: Organisation (Schnittstellen / Kommunikation)
- Was ist passiert?: Pat. ist mit Fahrrad gestürzt. Bei Eintreffen des Rettungsdienstes bereits Reanimation durch Ersthelfer. Reanimation wurde erfolgreich durch Rettungsdienst fortgesetzt. Der Transport erfolgte nach primär erfolgreicher Reanimation unter Voranmeldeung mit dem Stichwort "Reanimation bei Verdacht auf kardiales Geschehen". Transportzeit im Rettungswagen: ca. 40 Minuten. Pat. wurde direkt auf der Intensivstation übernommen und es zeigte sich folgende Situation: A) Intubiert B) Maschinelle Beatmung, Thorax auskultatorisch ohne Befund C) "Kreislaufstabil" unter Katecholamintherapie D) Beatmung ohne Analgosedierung möglich, Pupillen fraglich nicht isokor E) diverse Prellmarken am ganzen Körper, Pat. war nicht In-Line-Immobilisiert. Aus der angemeldeten "internistischen Problematik" wurde ein Polytrauma.
- Was war das Ergebnis?: ca. 60 Minuten nach Aufnahme auf der Intensivstation wurde eine "Polytrauma-Spirale" durchgeführt, bei der sich eine Dens-Fraktur zeigte. Jetzt erfolgte die Immobilisation der Halswirbelsäule.
- Wo sehen Sie Gründe für dieses Ereignis?:
- Hauptproblem: Fokussierungsfehler. Die Massnahmen des Rettungsdienstes konzentrierten sich auf die Reanimation mit einer angenommenen kardialen Ursache. Traumatische (Begleit-)Ereignisse wurden anscheinend völlig ausgeschlossen. Im Krankenhaus verlegte sich dann der Fokus auf das mögliche Trauma, die kardiale Situation war sekundär.
- Aufnahme im Krankenhaus: Patienten nach Reanimation werden überwiegend sofort auf die Intensivstation übernommen. Hier wäre eine grundsätzliche Aufnahme ALLER Notfallpatienten in der Notaufnahme (es existieren sehr gut ausgerüstete Schockräume) sinnvoll.
- Fachgebietsgerangel: "Es ist ja kein Chirurgie-Pat."
- Kam der Patient zu Schaden?: k. A.
- Welche Faktoren trugen zu dem Ereignis bei?:
- Kommunikation (im Team, mit Patienten, mit anderen Ärzten etc.)
- Ausbildung und Training
- Persönliche Faktoren des Mitarbeiters (Müdigkeit, Gesundheit, Motivation etc.)
- Teamfaktoren (Zusammenarbeit, Vertrauen, Kultur, Führung etc.)
- Organisation (zu wenig Personal, Standards, Arbeitsbelastung, Abläufe etc.)
- Wie häufig tritt dieses Ereignis ungefähr auf?: erstmalig
- Wer berichtet?: k. A.
Fall des Monats "August 2015": Fokussierungsfehler im Rettungsdienst setzt sich fort
Fachkommentar der Steuergruppe KH-CIRS-Netz Deutschland:
Fachkommentar des Fachbeirats CIRSmedical.de:
Autor: Dr. med. M. St. Pierre in Vertretung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin (DGAI)
Lieber Melder,
haben sie herzlichen Dank für ihren Bericht, welcher einen kritischen Zwischenfall schildert, dessen potentielle Komplikationsmöglichkeiten aber erfreulicherweise nicht eingetreten sind: Ein traumatisierter Patient mit Dens-Fraktur wird aufgrund seiner kardial bedingten Grunderkrankung ohne zervikale Immobilisierung auf eine Intensivstation verbracht.
Incident-Berichte, wie der von Ihnen eingereichte, erfüllen eine doppelte Funktion: Zum einen erfüllen sie eine Lernfunktion sowohl für das Individuum als auch für eine Organisation; zum anderen enthalten sie Informationen über sicherheitsrelevante Systemfaktoren, aus denen prozedurale, organisationale und strukturelle Konsequenzen gezogen werden müssen. Eine Limitierung auf die reine Lernfunktion wird dem Wesen eines CIRS als organisationales Werkzeug zur Implementierung und Stärkung der Sicherheitskultur nicht gerecht.
A) Lernfunktion
Die Lernfunktion kommt vor allem in dem Aspekt des Fixierungsfehlers zu tragen, welcher sich in der initialen Diagnose und nicht vollzogenen Revision der Anfangsdiagnose bemerkbar gemacht hat. Somit illustriert die Meldung in sehr anschaulicher Weise den häufig zu beobachtenden Sachverhalt, dass internistisch und traumatisch bedingte Erkrankungen bzw. Verletzungen bei Notfallpatienten koinzidieren können (z. B. der Myokardinfarkt, Hypoglykämie, Grand-mal-Anfall am Steuer, die übersehen werden und zu einer Behandlung der Patienten als reiner "Verkehrsunfall" führen).
Im vorliegenden Fall lag der Fokus des Behandlungsteams völlig zu recht auf der vital bedrohlichen Erkrankung: "treat first, what kills first". Aus Gründen, welche sich dem Leser nicht, und dem Behandlungsteam möglicherweise nur in einer unmittelbar im Anschluss durchgeführten Teambesprechung ("Debriefing") erschließen, erfolgte in den 40 (!) Minuten des Transports keine Reevaluation des Patienten, welche zu einer Änderung der initialen Zielstation geführt hätte. Ob diese Reevaluation unterblieb (worauf das fehlende Anlegen einer zervikalen Immobilisierung hinweisen könnte), oder ob dem versorgenden Team die Problematik zwar bewusst gewesen aber aufgrund bekannter Lokalfaktoren (z. B. "Wir haben Bedenken, einen reanimierten Patienten im chirurgischen Schockraum abzugeben") keine Änderung möglich war, kann der Leser nicht entscheiden. Welche Möglichkeiten bestehen nun für das behandelnde Team vor Ort, eine rasche Festlegung auf "automatisierte", heuristisch gefundene Diagnosen zu vermeiden und stattdessen alternative Diagnosen und Erwägungen zu "erzwingen" ("cognitive forcing strategies")? Die Literatur bietet hier eine Reihe an Vorschlägen an (z. B. St.Pierre & Hofinger 2014):
- Reevaluation bei Patientenübergaben:
Sowohl der Notarzt, der einen Patienten von der erstversorgenden RTW-Besatzung (oder von reanimierenden Passanten) übergeben bekommt, als auch das Personal in der Notaufnahme, welches einen Patienten mit einer Diagnose erhält, steht in Gefahr, diese ungeprüft zu übernehmen. Erscheint der Patient unsympathisch (z. B. Verwahrlosung, Alkoholintoxikation, Adipositas permagna, psychiatrische Erkrankung), so besteht häufig beim Behandler eine zusätzliche Motivation, nicht weiter nachzufragen. Nicht um kategorisch alle bisherigen Überlegungen und diagnostischen Ergebnisse zu verwerfen und jedes Mal von vorne zu beginnen, sondern um die Verwundbarkeit des diagnostischen Prozesses, z. B. durch Bestätigungsfehler (confirmation bias), vorzeitige Beendigung (premature closure) abzufangen, sind die folgenden Fragen wichtig. Immer dann, wenn man einen Patient im Rahmen einer Übergabe erhält, kann man sich diese Fragen stellen:- Beschäftige ich mich innerlich mit einer pathophysiologischen Störung, oder habe ich mich bereits auf eine Diagnose festgelegt?
- Bin ich aufgrund eigener Überlegungen zu dieser Diagnose gekommen, oder habe ich sie vom Patienten, dessen Angehörigen, medizinischem Fachpersonal oder einem Arzt erhalten?
- Habe ich die Diagnose dieses Patienten kritiklos übernommen?
- Laufe ich Gefahr, mich mit dem Stereotyp dieser Erkrankung zufriedenzugeben, um keine weiteren Schritte unternehmen zu müssen?
- Habe ich außer demjenigen Organsystem, welches mir die Diagnose nahelegt auch andere Organsysteme überprüft?
- Systematische Dekonstruktion des Problems:
Advanced Trauma Life Support (ATLS)- und Prehospital Trauma Life Support (PHTLS)-Kursen lehren die priorisierte Abarbeitung nach dem "ABCDE"-Schema (Airway, Breathing, Circulation, Disability, Environment/Exposure). Sie bewahrt den Helfenden davor, die offensichtlichste Verletzung für das bedrohlichste oder das ausschließliche Problem zu halten und Informationen entsprechend zu gewichten. Bei Abarbeitung der Punkte "D" und "E" wäre die Beurteilung der Umgebungsfaktoren/des Unfallhergangs bzw. die Suche nach neurologisch gefährdenden Faktoren (HWS) erfolgt. - Worst-case-Szenario ausschließen:
Wenn man mit einem Problem konfrontiert wird, werden sofort die Diagnosen mit den schwerwiegendsten Konsequenzen formuliert und ausgeschlossen. Dieses Vorgehen kann auch da Sinn machen, wo die klinische Präsentation wenig bedrohlich erscheint: die "erzwungene Erwägung" wird Teil des eigenen akutmedizinischen Vorgehens. - Universales Antidot verwenden:
Ähnlich wie bei der Erwägung des worst-case-Szenarios kann auch die bewusst gestellte Frage "Könnte es nicht noch etwas anderes sein?" dem Entscheider dabei helfen, nach Argumenten zu suchen, die die augenblicklich favorisierte Diagnose falsifizieren könnten. Insbesondere, wenn diese Frage an das gesamte Team weitergegeben wird, können eine Vielzahl weiterer, initial nicht bedachter Alternativen generiert werden. Wesentlich ist, dass nach Alternativen gesucht wird, welche der ursprünglichen Annahme widersprechen.
B) Systemische Veränderung
In Unkenntnis der strukturellen und prozeduralen Gegebenheiten der meldenden Klinik können keine konkreten Empfehlungen gegeben werden. Die vom Melder angesprochene Segmentierung der Erstversorgung von Notfallpatienten spielt dann keine Rolle, wenn die Genese eindeutig nur einer der aufnehmenden Kliniken zuzuordnen ist (z. B. Sturz, Trauma, Lungenembolie, Myokardinfarkt). Dann erfolgt vielerorts die Aufnahme des Patienten nur im Schockraum (chirurgisch), im CT (Hirnblutung) oder auf Intensivstation (Myokardinfarkt). Koinzidieren diese - wie im vorliegenden Fallbericht - würde der Patient entweder von einer zentralen Notaufnahme profitieren, oder aber von einem Schockraum, in welchem das aufnehmende Team auch mit der Weiterversorgung eines reanimierten Patienten vertraut ist. Ob dies im vorliegenden Fall möglich gewesen wäre, oder aber - aufgrund einer Fixierung auf das kardiale Geschehen - gar nicht erst zur Diskussion stand, entzieht sich der Kenntnis des Lesers. Sollte das angesprochene "Fachgebietsgerangel" im vorliegenden Fall ein relevanter Aspekt gewesen sein, so sollte diese Meldung als Anlass dafür dienen, unter Beteiligung der internistischen und chirurgischen Verantwortlichen nach einer klaren Vorgehensweise für diese "Mischpatienten" zu suchen.
Literatur
Handlungsstrategien. Wege zur guten Entscheidung. In: St. Pierre M, Hofinger G. Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. 2014, 185-202.