CIRS Berlin ÄZQ Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) Deutscher Pflegerat e.V.

Fälle des Monats

Fall des Monats "Januar 2025": Digitalisierung der Anästhesieaufklärung

Fall-Nummer:
270763

Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie

Wo ist das Ereignis passiert?
Krankenhaus

In welchem Bereich ist Ereignis aufgetreten:
Einleitung

Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag

Welche Versorgungsart:
Routinebetrieb

ASA Klassifizierung::
ASA I

Patientenzustand:
gesunde Patientin zur Kreuzband-OP

Wichtige Begleitumstände:
Anästhesieaufklärung seit 2 Monaten digitalisiert

Was ist passiert?
Präoperativ fällt auf, dass keine Anästhesieeinwilligung (im digitalen Programm) vorliegt. Bei Nachforschungen zeigt sich, dass die Anästhesieinformationen aus der Patientenakte nicht mit der Patientin übereinstimmen (Größe, Gewicht, häusliche Medikation). Des Weiteren findet sich im digitalen Aufklärungsprogramm ein Patient mit gleichem Nachnamen mit erfolgter Aufklärung. Ebenfalls Knie-OP, aber TEP. Im persönlichen Gespräch stellt sich heraus, dass die Patientin sehr wohl eine Anästhesieaufklärung bekommen und auch unterschrieben hat. Der Vergleich der Unterschriften zeigt, dass die Aufklärung im Dokument des namensgleichen Patienten stattgefunden hat.

Was war besonders gut?
Das Fehlen der Anästhesieaufklärung fiel bereits weit vor der geplanten Operation auf. Es war ausreichend Zeit den Sachverhalt zu klären und ohne medikamentöse Prämedikation mit der Patientin gesprochen werden.

Was war besonders ungünstig?
Die Patientin hat die Anästhesieunterlagen, die ihr vom Operateur zur Verfügung gestellt wurden, nie geöffnet und bearbeitet. Am Prämedikationstermin fand das Patientenmanagement ein vorausgefülltes Dokument mit entsprechendem Nachnamen. Eine weitere Überprüfung hat offensichtlich nicht stattgefunden, so dass die Patientin nicht aufgefordert wurde ein eigenes Dokument auszufüllen. Beim Gespräch mit dem Anästhesisten wurde wieder das Dokument des gleichnamigen Patienten gefunden und bearbeitet ohne dass auffiel, dass die Angaben nicht zu dieser Patientin passten.

Wo sehen Sie Gründe für dieses Ereigniss?
fehlende Sorgfaltspflicht, Zeitdruck bei den Aufklärungen, neue Arbeitsabläufe bei neu eingeführten digitalen Anästhesieaufklärung

Wie häufig tritt dieses Ereignis ungefähr auf?
erstmalig

Wer berichtet?
Arzt / Ärztin, Psychotherapeut/in

Feedback des CIRS-Teams / Fachkommentar


Kommentar:

Autor: Prof. Dr. med. habil. Matthias Hübler in Vertretung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin (DGAI)

Diese wichtige Meldung thematisiert ein Problem, mit dem alle, die im Gesundheitssystem arbeiten, zunehmend konfrontiert werden: Die Auswirkung der Digitalisierung auf unser Arbeitsumfeld.

1. Die Digitalisierung bildet nur sehr eingeschränkt unsere bisherige Arbeit und unsere Arbeitsabläufe ab.

Die Digitalisierung ist politisch gewollt und bietet auch unzweifelhaft zahlreiche Vorteile. Ein wesentliches Problem bei der Umsetzung ist allerdings, dass nicht immer versucht wird, etablierte und bewährte Prozesse digital abzubilden, sondern dass andere Faktoren in den Vordergrund treten. Diese Faktoren (technische, Datensicherheit, etc.) sind für den späteren Anwender nicht immer nachvollziehbar, führen aber dazu, dass die entstehenden Produkte uns zwingen, anders zu arbeiten und z.T. auch anders zu denken wie bisher. Die uns zur Verfügung gestellten IT-Produkte geben uns neue Arbeitsabläufe vor und wir müssen uns anpassen. Gleichzeitig sind angekündigte Vereinfachungen und Optimierungen im Arbeitsalltag oft nicht nachvollziehbar. Der Nutzer macht die Erfahrung, dass die Komplexität und die Arbeitslast meist zunehmen. Das Ergebnis sind frustrierte Nutzer, die die Veränderungen als Behinderung der Arbeit wahrnehmen und die evtl. verbundenen Vorteile verdrängen. Diese Kombination ist aus Sicht der Patientensicherheit gefährlich, denn sie gefährdet die Arbeitseinstellung und lenkt uns von den eigentlich wichtigen Tätigkeiten ab. In der Meldung ist es die scheinbare Selbstverständlichkeit, die Daten auf dem Aufklärungsbogen mit der Identität des Patienten abzugleichen. Diese Aktion ist neu, denn zuvor überreichte der Patient den ausgefüllten Bogen persönlich.

2. Viele Clicks = viele Fehlermöglichkeiten

Menschen machen Fehler. Die Tatsache, dass digitale Lösungen automatische Abgleichungen und Validierung der Daten durchführen, verhindert nicht, dass am Ende Menschen den Computer bedienen, die eben weiter Fehler machen. In der Meldung war es die falsche Zuordnung des Aufklärungsbogens, weil die Patienten den gleichen Nachnamen hatten. Leider ist es so, dass jede einzelne Aktion eines Menschen stets mit einer gewissen Fehlerwahrscheinlichkeit hinterlegt ist. Nimmt die Anzahl der Einzelaktionen zu, wie es regelhaft bei digitalen Lösungen der Fall ist, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Fehler tatsächlich realisiert. Zusätzlich neigen wir dazu, uns angebotene Werte, Befunde, etc. leichtfertig als korrekt bzw. korrekt zugeordnet zu akzeptieren. Wahrscheinlich ist diese Neigung bei digitalen Akten sogar noch größer als bei der klassischen Papierversion.

3. Die veränderten Arbeitsabläufe müssen geschult werden.

Von den Anwendern wird erwartet, dass der Umgang mit neuen digitalen Tools intuitiv erlernt wird. Leider ist dies ein Trugschluss. Ähnlich wie bei der Umsetzung von neuen Therapieleitlinien (Beispiel „Maßnahmen zur Senkung von katheterassoziierter Sepsis”) kann es nur gelingen, wenn die Anwender geschult werden. Diese Schulungen sollten idealerweise nicht einmalig vor Einführung des Produkts, sondern wiederholt begleitend während der laufenden Arbeit erfolgen. Dieses Vorgehen hat den Charme, dass die Hersteller des digitalen Produkts auch ein direktes Feedback von dem Anwender erhalten und im günstigsten Fall Adaptierungen anstoßen.

Zusammenfassend stellt die Digitalisierung große Anforderungen an die Nutzer. Neuerungen zu etablieren, heißt auch immer, neue Fehlerquellen müssen erkannt und gelernt werden. Im Verlauf kann es gelingen, die Arbeitsabläufe tatsächlich zu verbessern. Ob immer auch ein Zeitgewinn ein Ergebnis sein wird, darf bezweifelt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Lasten der tatsächlichen Arbeit am und mit dem Patienten geht, ist sehr hoch.

Literatur:

[1] Fischer S, Schwappach DLB. Efficiency and Safety of Electronic Health Records in Switzerland-A Comparative Analysis of 2 Commercial Systems in Hospitals. J Patient Saf 2022; 18:645-651. https://doi.org10.1097/PTS.0000000000001009

[2] Ratwani RM, Savage E, Will A, Arnold R, Khairat S, Miller K, Fairbanks RJ, Hodgkins M, Hettinger AZ. A usability and safety analysis of electronic health records: a multi-center study. J Am Med Inform Assoc 2018; 25: 1197-1201. https://doi.org/10.1093/jamia/ocy088